Petershagen. Alleinstellungsmerkmale sind für Werbezwecke außerordentlich beliebt, manchmal auch scheinbar weit hergeholte. Petershagen als Stadt und die Petershäger Weseraue im Besonderen haben ohne Zweifel etliche Besonderheiten. Doch ist es der Weißstorch, der in der Region über allen stehen dürfte: ein auffälliger, markant gezeichneter großer Vogel, den schon „jedes Kind“ kennt und der überall gern gesehen ist. Ein idealer Werbeträger für die „Storchenhauptstadt NRW“, wie sich Petershagen im Untertitel sogar offiziell herausheben darf. Und das kam so:
Begeisternde Bestandsentwicklung nach dem Beinahe-Aussterben
Allen dürfte noch erinnerlich geblieben sein, wie der Storch am Ende des letzten Jahrhunderts – es klingt nur lange her – in seiner Existenz stark gefährdet war. Um 1990 konnte NRW nur noch 3 Storchenpaare vorweisen, sämtlich in der Petershäger Weseraue gelegen! Abschied nehmen schien angesagt. Jössen, Windheim, Döhren und Schlüsselburg waren die letzten Stationen, die sein Überleben bei uns noch ermöglichten.
Die Nordrhein-Westfalen-Stiftung Natur Heimat Kultur hörte den Hilferuf, erkannte dies „fünf vor zwölf“ und unterstützte das 1987 gegründete Aktionskomitee „Rettet die Weißstörche im Kreis Minden-Lübbecke“ e.V. ganz wesentlich. Letzte und noch wiederherstellbare Nahrungsflächen konnten jetzt erworben und optimiert werden, die der Intensivierung der Landwirtschaft noch nicht vollständig zum Opfer gefallen waren. Nisthilfen an geeigneten Standorten konnten gefördert und die Öffentlichkeitsarbeit pro Storch intensiviert werden. Es ging von Anfang an immer auch um den von vielen weiteren gefährdeten Tieren und Pflanzen genutzten Lebensraum der beliebten Vögel mit Schwerpunkt in der Weseraue und der Bastauniederung. Ohne Bewusstsein für seine Bedeutung würden alle Schutzbemühungen letztlich ins Leere laufen. Denn von der Liebe der Menschen allein lässt sich als Storch nicht leben …
Storchenhauptstadt Petershagen
So wurde der öffentlichkeitswirksame Titel „Storchenhauptstadt Petershagen“ zu einer klassischen Win-Win-Situation, für Storch und Stadt gleichermaßen.
Zum vorläufigen Zwischen- und gleichzeitig neuem historischen Höchststand 2019 sind 27 Horstpaare allein in den Petershäger Ortschaften, überwiegend in der weiteren Weseraue, zu vermelden! Darunter befinden sich uralte Standorte wie der auf der Esche am Hof Humke in Jössen (1933) oder der auf der Schlüsselburg (1935). Doch auch mögliche weitere und neue Horstplätze warten zum Beispiel in Maaslingen (Seiler) und Meßlingen (Kubos) auf erste feste Ansiedlungen und Bruten. Nisthilfen befinden sich in allen 29 Teilortschaften der Stadt. Im Kreis Minden-Lübbecke – in der Öffentlichkeit zunehmend als „Mühlen- und Storchenkreis“ wahrgenommen – sind in diesem Jahr sogar 88, in NRW über 300 Paare erfaßt worden. Ist die über 30jährige Arbeit des Aktionskomitees damit auch als große Erfolgsgeschichte zu sehen, so sind doch auch weitere glückliche Umstände und Entwicklungen beteiligt.
Die jahrzehntelange Dürreperiode in der Sahelzone, traditionelles Überwinterungsgebiet der über die westliche Route wandernden Weißstörche, klang aus. Und die „Weststörche“ entwickelten eine neue Überwinterungskultur: Spanien mit seinen zunehmenden Reisfeldern und riesengroßen Mülldeponien bot ihnen zunehmend Nahrung, so dass viele von ihnen bereits hier „hängen blieben“ und den weiteren gefährlichen Zug über die Meerenge von Gibraltar, die nordafrikanischen Gebirgszüge und die Sahara vermieden. Dies führte zu geringeren Verlusten, einer höheren Überlebensrate und einer bei uns zum Teil mit Sorge erlebten früheren Rückkehr ins Brutgebiet. Doch nur ein Teil unserer Störche kommt „immer früher“, wie von vielen Menschen subjektiv empfunden. Die über Osten abziehenden und zurückkehrenden Störche, in Ost- und Südafrika überwinternd, kommen aufgrund der deutlich längeren Wege (bis zu 10.000 km!) nach wie vor erst ab Ende März nach Petershagen zurück.
Westziehende Störche auf dem Vormarsch
Da sich die Population der Weststörche – im Gegensatz zu den Oststörchen – insgesamt sehr positiv entwickelt hat, besonders in Spanien, dem Storchenland par excellence, mit über 30.000 Paaren, aber auch in den Niederlanden, Frankreich und weiteren Ländern, nimmt ihr Gewicht bei uns seit Jahren ständig zu. Petershagen liegt im Bereich des Zugscheidenmischgebiets, d.h. wir haben sowohl West- als auch Oststörche bei uns. Sie treffen hier aufeinander, konkurrieren miteinander, vermengen sich natürlich auch, denn sie gehören der gleichen Art an. Die „einseitige“ Zunahme der westlich ziehenden Vögel bei uns führt aber gleichzeitig auch dazu, dass es die später ins Gebiet eintreffenden Oststörche schwerer haben. Diese müssen sich in gute, aber bereits besetzte Horstplätze hineinkämpfen oder sich weniger attraktive Lebensräume erschließen. So können sich heute Bewohner von Dörfern an Störchen erfreuen, die jahrzehntelang ohne eigene Störche waren oder vielleicht sogar noch nie das Glück hatten, den Frühlings- und Glücksbringer bei sich erleben zu können. Das Angebot gut platzierter Nisthilfen und eine gleichzeitige gewisse Umstellung der Störche in ihrem Nahrungsspektrum (kurzgefaßt „Mäuse statt Frösche“) führen ihn auch in eigentlich für ihn suboptimale Lebensräume. Sein Bleiben wird dann immer vom jeweiligen Bruterfolg abhängen, der letztlich eben doch vom Nahrungsangebot abhängig bleibt. Störche in unseren Dörfern sind immer eine Aufforderung, ihre Lebenserfordernisse zu beachten, u.a. eine Feuchtwiese eben nicht umzubrechen und mit Mais zu belegen, Grünland und Brachen zu bewahren und Kleingewässer zu schaffen.
Text: Alfons Rolf Bense, Fotos: Dietmar Meier